Virtuelle Podiumsdiskussion: „Schnelle Hilfen“ im SGB XIV – Herausforderungen für die Praxis aus juristischer und therapeutischer Sicht (mit Tagungsbericht)

EINLADUNG UND PROGRAMM
„Schnelle Hilfen“ im SGB XIV
Herausforderungen für die Praxis aus juristischer und therapeutischer Sicht
Virtuelles Podium und Diskussion

7. April 2022, 16.00 Uhr – 17.45 Uhr

Die Reform des Sozialen Entschädigungsrechts hat mit den Schnellen Hilfen eine neue Form der Leistungsgewährung eingeführt. Dabei sind die Trauma-Ambulanzen eine wichtige Komponente. Die Regelungen hierzu traten zwar erst zum 1. Januar 2021 in Kraft, aber im Land Nordrhein-Westfalen gibt es Erfahrungen mit Trauma-Ambulanzen bereits seit mehr als 20 Jahren. Über die Behandlungen in einer Trauma-Ambulanz wird Frau Dipl.-Psych. Ivonne Schürmann aus der Sicht einer Therapeutin berichten.

Die juristischen Feinheiten der Neuregelung erläutert Herr Dr. Tobias Mushoff. Er ist Mitverfasser eines ersten Überblicks zum neuen Recht und Kommentator des SGB XIV. Schon jetzt sind juristische Probleme in der Neureglung erkennbar, die die Sozialgerichte noch beschäftigen werden.

Das Recht der „Leistungserbringer“ aus der Sicht der Verwaltung wird Herr Dr. Christian Weber darlegen. Neben der Zwickmühle, dass die Versorgung sicher zu stellen ist ohne eine Möglichkeit der Verwaltung, auf die Krankenhäuser verpflichtend zuzugreifen, ergeben sich viele weitere interessante Fragen. Die Trauma-Ambulanz-Verordnung des Bundes liegt nicht ohne Grund seit Oktober 2021 nur als Referentenentwurf vor.

Die Kommission Soziales Entschädigungsrecht des DSGT nimmt sich dieser neu geschaffenen Leistungsform auf einer hochkarätig besetzten virtuellen Podiumsdiskussion (im Zoom-Format) an. Es besteht die Möglichkeit, sich per Chat in die Diskussion mit Fragen und Anmerkungen einzubringen.

Der Vorstand des DSGT und die von Herrn Prof. Dr. Torsten Schaumberg (Hochschule Nordhausen) geleitete Kommission würden sich sehr über eine zahlreiche Teilnahme an der virtuellen Veranstaltung freuen.

Programm

Moderation
Herr Prof. Dr. Torsten Schaumberg
, Hochschule Nordhausen

16.00
Begrüßung und Einführung
Frau Monika Paulat
, Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstages e.V.

16.05
Vorstellung der Referentinnen

16.15
Inputs und Podiumsgespräch

Frau Dipl.-Psych. Ivonne Schürmann, Psychologische Psychotherapeutin,
LWL-Amt für Soziales Entschädigungsrecht – Medizinischer Dienst, Münster

Herr Dr. Tobias Mushoff, Richter am Landessozialgericht, Essen

Herr Dr. Christian Weber, Referatsleiter Landesversorgungsamt, Halle (Saale)

17.15
Diskussion

17.45
Schlusswort und Verabschiedung

Kosten
keine

Anmeldung
DSGT-Geschäftsstelle, Frau Angelika Karsten:
geschaeftsstelle@sozialgerichtstag.de

Frist
4. April 2022

Einwahldaten
werden rechtzeitig vor der Veranstaltung mitgeteilt


„Schnelle Hilfen“ im SGB XIV – Herausforderungen für die Praxis aus juristischer und therapeutischer Sicht

Tagungsbericht über die virtuelle Podiumsdiskussion des Deutschen Sozialgerichtstages 

vom 13. April 2022

von Jörn Hökendorf (Richter am Landessozialgericht Berlin-Brandenburg)

Die Reform des Sozialen Entschädigungsrechts (SER) hat mit den Schnellen Hilfen eine neue Form der Leistungsgewährung eingeführt. Dabei sind die Trauma-Ambulanzen eine wichtige Komponente. Die Podiumsdiskussion, welche die Kommission SER/SGB IX des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. organisierte, stellte aus unterschiedlichen Perspektiven die geregelten Leistungen dar. An der Veranstaltung nahmen ca. 70 Gäste online teil, die nach den Vorträgen intensiv über die Thematik diskutierten.

Die Regelungen zu den Schnellen Hilfen traten zwar erst zum 1. Januar 2021 in Kraft, aber im Land Nordrhein-Westfalen gibt es Erfahrungen mit Trauma-Ambulanzen bereits seit mehr als 20 Jahren. Über die Behandlungen in einer Trauma-Ambulanz berichtete Frau Dipl.-Psych. Ivonne Schürmann (Landschaftsverband Westfalen-Lippe – Amt für Soziales Entschädigungsrecht – Medizinischer Dienst, Münster) aus der Sicht einer Therapeutin.

In der Gesamtschau sind die Trauma-Ambulanzen ein Erfolgsmodell, weil sie eine Lotsenfunktion für die Betroffenen wahrnehmen und ihnen helfen, sich in der Versorgungslandschaft zu Recht zu finden. Die Behandlung entspricht aufgrund der Qualitätssicherung durch die Fachstandards sehr hohen Ansprüchen. In der Mehrheit der Fälle (2/3) sind bis zu 5 Sitzungen für die Versorgung der Betroffenen ausreichend, wobei ein hoher Anteil hiernach folgenlos abgeheilt bleibt. Die Betroffenen, welche Leistungen der Trauma-Ambulanzen in Anspruch genommen haben, legen im Vergleich weniger häufig Widersprüche oder Klagen ein.

Es gibt auch aber Grenzen der Leistungen. Die Trauma-Ambulanzen sind ausgerichtet auf Akuttraumatisierte. Es handelt sich nicht um ein Konzept, welches auf die Behandlung von mehrfachtraumatisierten Personen ggfls. mit einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung ausgerichtet ist. Hierfür ist ein anderes Behandlungskonzept erforderlich. Zum Bereich der Kinder und Jugendlichen ist aufgrund kaum belastbarer Zahlen zurzeit noch keine Aussage möglich.

Die Erfolge der Trauma-Ambulanzen sind nur möglich, wenn diese Leistungen auch bei den Betroffenen ankommen. Hierfür ist dringend erforderlich, dass die Opferschutzbeauftragten der Polizei entsprechend geschult sind und die Betroffenen auf diese Leistungen hinweisen.

Die Behandlung in einer Trauma-Ambulanz umfasst 5 plus 10 „schnelle Sitzungen“. Es handelt sich hierbei um eine neue Form der Frühintervention, welche maximale Flexibilität gewährleistet und sich aus Methoden der Traumatherapie zusammensetzt. In den ersten Tagen nach einem traumatischen Ereignis erfolgt noch keine Therapie, da eine Behandlung nicht möglich ist. Die Aufgabe der Therapeuten besteht in einem Beobachten der Symptomentwicklung (watchful waiting), um die Selbstheilung nicht zu beeinträchtigen. Erst bei Symptomzunahmen erfolgt ab der 3. bzw. 4. Woche eine spezifische Behandlung. Die hochspezialisierten Stellen erkennen am ehesten, wann NICHTS getan werden muss. Ein aktiver Fokus auf traumaassoziierte Gedanken und Gefühle in den ersten Stunden und Tagen nach dem Ereignis erhöht hingegen gerade die Wahrscheinlichkeit für psychische Störungen.

Der übliche Ablauf der ersten 5 Stunden kann sich folgender Maßen gestalten. In der 1. Stunde wird vom Therapeuten eine Beziehung zum Betroffenen aufgebaut und mit empathischem Zuhören kann dieser von seinen Erlebnissen berichten. Hierbei ist sehr wichtig, dass die äußere Sicherheit der Betroffenen oberste Priorität hat. Die Interventionen beschränken sich im Wesentlichen auf die Beratung von Angehörigen, Diagnostik und Distanzierungstechniken. In den folgenden Stunden steht weiterhin die Bestandsaufnahme im Vordergrund und die Interventionen sind im Wesentlichen Psychoedukation, Ressourcenaktivierung und Stabilisierungstechniken. Zum Schluss der ersten fünf Sitzungen kommen als weitere Interventionen eine Traumalandkarte, die Einführung der Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), eine Vertiefung mit eventueller Traumakonfrontation sowie die weiterführende Behandlung und ggfls. die Vermittlung in eine Therapie in Betracht. In der Abschlussstunde sollte durch Sinnfindung und Integration das Trauma als (vergangener) Teil der eigenen Biografie angesehen werden.

Ein bisher nicht gelöstes Problem sind die langen Wartezeiten für eine Anschlussbehandlung aufgrund der starken Nachfrage nach psychotherapeutischer Behandlung und des geringen Leistungsangebot.

Die juristischen Feinheiten der Neuregelung erläuterte Herr Dr. Tobias Mushoff (Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Essen). Er ist Mitverfasser eines ersten Überblicks zum neuen Recht und Kommentator des SGB XIV. Schon jetzt sind juristische Probleme in der Neureglung erkennbar, die die Sozialgerichte noch beschäftigen werden.

Vor der Reform des SER wurde mehrfach die Verfahrensdauer als großes Problem angesehen, da zwischen dem Antrag und einer Entscheidung oft mehrere Jahre lagen. Dieses Problem sollte durch die Bereitstellung einer neuen Leistung, nämlich die Schnellen Hilfen, behoben werden. Die Betroffenen sollten einen zügigen und unbürokratischen Weg zu den möglichen Leistungen haben. Hiermit sollten auch mehr Betroffene erreicht werden und mehr Leistungen in Anspruch genommen werden.

Aus diesem Anspruch des Gesetzgebers ergibt sich ein Rahmen für die Neuregelung. Der Zugang muss zügig und unbürokratisch möglich sein. Die Verwaltung muss auch die Möglichkeit haben, über einen Anspruch auf Schnelle Hilfen zügig entscheiden zu können. Zuletzt dürfen die Leistungen für die Betroffenen nicht mit einem unkalkulierbaren Kostenrisiko verbunden sein.

Die Regelungen über die Antragstellung finden sich zukünftig in den §§ 10 f. SGB XIV (In-Kraft-Treten zum 1.1.2024)[1]. Ausreichend ist ein Antrag, wenn dieser unverzüglich nach der zweiten Sitzung gestellt wird (§ 10 Abs. 5 SGB XIV). Die Betroffenen werden nach § 11 Abs. 5 SGB XIV von den Kosten der ersten beiden Sitzungen freigestellt, auch wenn Ansprüche nicht bestehen sollten. Die Fahrt- und Betreuungskosten werden den Betroffenen nach § 36 SGB XIV (bereits zum 1.1.2021 in Kraft getreten) erstattet.

Die Leistungen der Trauma-Ambulanz umschreibt der Gesetzgeber in § 31 Abs. 1 SGB XIV (bereits zum 1.1.2021 in Kraft getreten) als psychotherapeutische Intervention, um den Eintritt einer psychischen Gesundheitsstörung oder deren Chronifizierung zu verhindern. Eine Leistungserbringung ist nur in Trauma-Ambulanzen möglich, die mit dem Träger der Sozialen Entschädigung eine Vereinbarung nach § 37 SGB XIV geschlossen haben.

Die Leistungen in der Trauma-Ambulanz unterteilt der Gesetzgeber nach Leistungen der psychotherapeutischen Frühintervention nach § 32 SGB XIV. Hierbei erfolgt die erste Sitzung innerhalb von zwölf Monaten nach dem schädigenden Ereignis oder nach Kenntnis hiervon. Als weitere Form sieht der Gesetzgeber die psychotherapeutische Intervention in anderen Fällen nach § 33 SGB XIV an. Hiervon erfasst werden mehr als zwölf Monate zurückliegende schädigende Ereignisse, wenn diese zu einer akuten psychischen Belastung geführt haben und die erste Sitzung innerhalb von zwölf Monaten nach dem Auftreten der akuten Belastung erfolgt, zum Beispiel in Fällen des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. Die Leistungsgewährung soll erfolgen, wobei die Eignung und Erforderlichkeit einer psychotherapeutischen Leistung unterstellt wird, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Behörde hat nur in atypischen Fällen ein Ermessen.

Der Leistungsumfang ergibt sich aus § 34 SGB XIV. Danach werden höchstens 15 Stunden bzw. bei Kindern und Jugendlichen 18 Stunden erbracht. Die Inanspruchnahme der ersten fünf bzw. acht (bei Kindern und Jugendlichen) Stunden ist auch möglich, wenn noch keine Entscheidung der Behörde im Erleichterten Verfahren vorliegt (§ 34 Abs. 2 Satz 2 SGB XIV). Es stellt sich die Frage, welche Folgen eintreten, wenn im Nachhinein die Anspruchsvoraussetzungen verneint werden. Dem Gesetz kann eine Regelung insoweit nicht entnommen werden. Im Anschluss ist eine Bewilligung bis zu zehn weiteren Stunden möglich. Bei einer Verzögerung kann dies auch ggfls. ohne vorherige Entscheidung erfolgen (§ 34 Abs. 3 Satz 2 SGB XIV).

Das Verwaltungsverfahren hat in § 115 SGB XIV (bereits zum 1.1.2021 in Kraft getreten) als „Erleichtertes Verfahren“ eine gesonderte Ausprägung gefunden. Es genügt, wenn eine summarische Prüfung ergibt, dass die antragstellende Person anspruchsberechtigt sein kann, wobei der im Antrag dargelegte Sachverhalt als wahr zu unterstellen ist, wenn nicht seine Unrichtigkeit offensichtlich ist. Das große Problem in der Praxis ist die Anschlussbehandlung. Nach § 35 SGB XIV „verweist“ der Träger der Entschädigung die Personen, bei denen auch nach der Betreuung in der Trauma-Ambulanz weiterer psychotherapeutischer Behandlungsbedarf besteht, auf psychotherapeutische Angebote. Dieser Verweis dürfte aufgrund der fehlenden Kapazitäten zu Problemen führen.

Das Recht der „Leistungserbringer“ aus der Sicht der Verwaltung stellte Herr Matthias Wehrmeyer(Fachgruppenleitung, Niedersächsisches Landesamt für Soziales, Jugend und Familie, Hildesheim) dar. Neben der Zwickmühle, dass die Versorgung sicher zu stellen ist ohne eine Möglichkeit der Verwaltung, auf die Krankenhäuser verpflichtend zuzugreifen, ergeben sich viele weitere interessante Fragen. Die Trauma-Ambulanz-Verordnung des Bundes liegt nicht ohne Grund seit Oktober 2021 nur als Referentenentwurf vor. Hier gibt es noch unterschiedliche Einschätzungen in Einzelfragen, insbesondere zu den notwendigen Anforderungen an die Therapeuten und die Einrichtungen.

In der Praxis müssen die Kliniken überzeugt werden, entsprechende Leistungsverträge mit den Behörden abzuschließen, insbesondere da die Vergütungshöhe nicht sehr attraktiv ist. Auch nach dem Abschluss des Vertrages ist für die Verwaltung ein erheblicher Aufwand vorhanden, da ein Netzwerk aufgebaut werden muss. Es beginnt bei einer Information der Betroffenen, wobei die Polizei als zumeist erstangegangene Stelle notwendigerweise mit einbezogen werden muss. Hier konnten erste Erfolge erzielt werden, indem in den Streifenwagen nunmehr entsprechendes Informationsmaterial bereitgestellt wird. Die Kliniken müssen dann in die Strukturen eingebunden werden. Aber auch innerhalb der Verwaltung sind erhebliche Anstrengungen zu bewältigen. Die Mitarbeiter müssen sich mit schwierigen Fällen beschäftigen und benötigen hierfür Unterstützung. Hierzu zählen die notwendigen Schulungen und die Einführung einer Supervision. 

Im Ergebnis wären für eine Umsetzung in Niedersachsen ca. 30 weitere Stellen notwendig, wobei zurzeit nur drei Stellen hierfür zur Verfügung stehen. Auch die Anschlussbehandlung ist für die Verwaltung ein großes Problem, da zu wenig Kapazitäten vorhanden sind. Erleichterung dürfte die durchgeführte Reform des Studiengangs bringen.

Im Anschluss an die Vorträge kam es zu einer lebhaften Diskussion mit einem vergleichenden Blick auf das Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung und der Gesetzlichen Krankenversicherung. Sehr interessant war auch der Hinweis auf die möglichen Einflüsse einer Behandlung auf die Zeugenvernehmung in einem gerichtlichen Verfahren und die Beurteilung der Glaubhaftigkeit. Es zeigte sich, dass noch viele Fragen offen sind. Somit plant die Kommission bereits die Fortführung des Formats im kommenden Jahr.


[1] Vgl. für den Zeitraum vom 1.1.2021 bis zum 31.12.2023 § 138 Abs. 7 SGB XIV.