Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Grundrentengesetzes nach dem Stand vom 16.01.2020

Vorbemerkung

Der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. bedankt sich für die Gelegenheit, zu dem genannten Referentenentwurf Stellung zu nehmen. Vorab ist allerdings darauf hinzuweisen, dass innerhalb der hierfür gesetzten Frist von vier Tagen eine auch nur annährend vollständige Durchdringung und Bewertung der umfangreichen und komplexen Änderungen gegenüber der Entwurfsfassung vom 21.05.2019 nicht möglich ist. Die Arbeit des Deutschen Sozialgerichtstag e.V. basiert einzig auf dem ehrenamtlichen Engagement seiner Mitglieder. Seine Stärke besteht darin, das Expertenwissen einer Vielzahl auf dem Gebiet des Sozialrechts tätiger Einzelpersonen unterschiedlicher Professionen in einem diskursiven Prozess zu bündeln und so eine umfassendere Perspektive zu gewinnen, als dies Interessengruppen oder Fachverbänden einzelner Berufsgruppen möglich ist. Dieser Prozess benötigt jedoch deutlich mehr Zeit als die vorliegend einzuhaltende Frist, um eine tiefergehende Analyse und Bewertung des übermittelten Entwurfs eines GruReG vorzunehmen. Daher muss sich die nachfolgende Stellungnahme naturgemäß auf knappe Anmerkungen zu wenigen Punkten konzentrieren. Sollten künftig wieder fundierte Stellungnahmen auch zu den rechtlichen bzw. regelungstechnischen Details eines Gesetzentwurfs gewünscht werden, bitten wir zur früheren Praxis deutlich längerer Anhörungsfristen zurückzukehren.

Allgemeine Bewertung

Bereits der am 21. Mai 2019 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlichte Referenten-Entwurf eines Grundrentengesetzes[1] war innerhalb des Deutsche Sozialgerichtstag e.V. sehr umstritten. Bezüglich des Kerngedankens – Hochwertung niedriger Rentenansprüche langjährig Versicherter – halten sich Zustimmung und Ablehnung nach intensiven Diskussionen in etwa die Waage. Hieran hat sich nach Bekanntwerden der politischen Entscheidungen, die der nun vorliegenden Entwurfsfassung vom 16.01.2020 zugrunde liegen, wenig geändert.

Die Kritik an der Grundrente in der vorliegenden Form wendet sich mit Blick auf die vorhersehbare demografische Entwicklung vor allem gegen die zusätzliche Belastung künftiger Beitragszahler und Beitragszahlerinnen. Zudem wird das gewählte Mittel eines Entgeltpunktezuschlags als zu ineffektiv und zu wenig zielgenau im Hinblick auf das ursprünglich mit der Grundrente verfolgte Ziel der Bekämpfung von Altersarmut betrachtet. Viele halten einen allgemeinen Rentenfreibetrag im Rahmen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung weiterhin für vorzugswürdig. Demgegenüber folgen die meisten Befürworter der Entwurfsbegründung und sehen in der Grundrente eine notwendige Anerkennung der Lebensleistung langjährig Versicherter und einen dringend erforderlichen Ausgleich für die rentenrechtlichen Folgen struktureller Benachteiligungen auch und insbesondere von Frauen im Erwerbsleben („Gender Pension Gap“). Zugleich sehen sie in der Grundrente einen Ansatz zur Bekämpfung von Altersarmut und erwarten eine erhöhte Akzeptanz für die gesetzliche Rentenversicherung als solche.

Ungeachtet der unterschiedlichen Grundhaltungen innerhalb des Deutschen Sozialgerichtstag e.V. erfolgen die weiteren Ausführungen auf Grundlage der politischen Entscheidung für eine Grundrente in Form eines Entgeltpunktezuschlags.

Keine Finanzierung aus Beitragsmitteln

Allgemein begrüßt wird innerhalb des Deutschen Sozialgerichtstag e.V. die nunmehr vorgesehene Finanzierung der Grundrente ausschließlich aus Steuermitteln. Damit wird dem Charakter der vorgesehenen Leistung als gesamtgesellschaftlicher Aufgabe, einen sozialen Ausgleich für unterdurchschnittliche Löhne, die Lasten der Kindererziehung und der Pflege nahestehender Menschen zu schaffen, angemessen Rechnung getragen. Die Anerkennung von Lebensleistung gehört nach Auffassung des Deutschen Sozialgerichtstag e.V. nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch dies verlangt nach einer Finanzierung vollständig aus Steuermitteln.

Flexibilisierung der 35-Jahres-Grenze und Berechnungsmodus (§ 76g)

Ebenfalls begrüßt der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. die flexiblere Ausgestaltung der 35-Jahres-Grenze durch Staffelung des Entgeltpunktezuschlags bei „Grundrentenzeiten“ zwischen 33 und 35 Jahren. Diese scheint geeignet, die mit einer starren Grenze verbundenen Härten abzumildern. Allerdings ist die Regelung nicht zuletzt durch die Unterscheidung zwischen Fällen mit 33 bis unter 34, mit 34 bis unter 35 sowie mit 35 und mehr Jahren Grundrentenzeiten ungemein kompliziert. Hier sollte geprüft werden, ob es wenigstens für die Berechnung des Zuschlags in Fällen mit 33 Jahren bis 34 Jahren und 11 Monaten Grundrentenzeiten einfachere Modelle gibt.

Darüber hinaus bleibt das Problem ungelöst, dass auch bei einer Grenze von 33 Jahren gerade Frauen, die wegen ihrer hohen Belastung mit unbezahlter Sorgearbeit und einem hohen Anteil an Arbeit in schlecht bezahlter Teilzeit oder Minijobs besonders stark von Altersarmut betroffen sind, die Voraussetzungen für den Bezug der Grundrente nicht erfüllen. Aus diesen Gründen wirkt sich auch der Ausschluss von Kalendermonaten mit weniger als 0,025 Entgeltpunkten von der Berücksichtigung als Grundrentenbewertungszeit für Frauen besonders nachteilig aus. Der Entwurf steht damit im Widerspruch anderen Regelungen, die auf eine Stärkung der geschlechtergerechten Alterssicherung zielen, wie der 2013 eingeführten grundsätzlichen Rentenversicherungspflicht für Minijobs oder der Einführung einer Brückenteilzeit. Profitieren werden danach nur Personen mit dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen, in denen langfristig zumindest ein Drittel des Durchschnittsverdienstes erzielt wurde. Das in der Entwurfsbegründung ausdrücklich herausgestellte Ziel der Anerkennung von Pflege nahestehender Personen wird durch diese Regelung jedenfalls dann verfehlt, wenn die für diese Zeiten nach § 166 Abs. 1 Nr. 2f, Abs. 2 SGB VI maßgebliche Beitragsbemessungsgrundlage 30 Prozent der Bezugsgröße unterschreitet.

Anrechenbare Grundrentenzeiten (§ 76g Abs. 2; § 244 Abs. 5)

Schon in seiner Stellungnahme vom Juli 2019 hat sich der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. für die Berücksichtigung von Zeiten vorübergehender Arbeitslosigkeit bei der Ermittlung der Grundrentenzeiten ausgesprochen. Angesichts des tiefgreifenden Strukturwandels in den neuen Bundesländern nach deren Beitritt zur Bundesrepublik wie auch mannigfaltiger Umbrüche in verschiedenen Branchen in den Altbundesländern erscheint dies als ein Gebot der Gerechtigkeit. Dies gilt umso mehr, als der Entwurf nunmehr auch die bereits heute zunehmenden heterogenen Erwerbsverläufe und die Folgen der Digitalisierung in den Blick nimmt. Der hierdurch forcierte wiederholte Wechsel zwischen Selbstständigkeit und Beschäftigung wird immer wieder auch mit Zeiten der Arbeitslosigkeit und Arbeitssuche verbunden sein. Vorübergehend Arbeitslose könnten bei einem Ausschluss auch von Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs trotz fortbestehender Nähe zum Erwerbsleben doppelt betroffen sein, indem sie niedrige Renten erhalten und nicht von der Grundrente profitieren.

Die mit der Grundrente zu kompensierenden strukturellen Benachteiligungen schlagen sich auch in der Höhe von Erwerbsminderungsrenten nieder. Zugleich entspricht es dem Versicherungsprinzip, den Betroffenen durch Zurechnungszeiten annähernd die Versorgung zukommen zu lassen wie ohne den Eintritt des Versicherungsfalls der Erwerbsminderung. Vor diesem Hintergrund erscheint es geboten, sowohl bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrente als auch beim Übertritt in die Altersrente auch Zurechnungszeiten bei der Ermittlung der Grundrentenzeiten zu berücksichtigen.

Im Hinblick auf die im Entwurf postulierte Zunahme heterogener Erwerbsverläufe sowie der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Alterssicherungspflicht für Selbstständige wird zumindest mit deren Einführung auch die Frage zu beantworten sein, ob auch Zeiten der Absicherung außerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung unter Nutzung der vorgesehenen Opt-Out-Klausel bei der Ermittlung von Grundrentenzeiten zu berücksichtigen sein könnten.

Einkommensanrechnung (§ 97a)

Der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. hat sich in seiner Stellungnahme vom Juli 2019 sowohl gegen eine Bedürftigkeitsprüfung als auch gegen den damals in der Öffentlichkeit diskutierten „Kompromissvorschlag“ einer reinen Einkommensprüfung, wie es sie bei den Hinterbliebenenrenten gibt, ausgesprochen.

Für den Fall, dass es bei der vorgesehenen Einkommensanrechnung verbleibt, weist der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. auf Folgendes hin:

Die Beschränkung der Einkommensanrechnung auf Ehepartner und Lebenspartner nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz erscheint vor Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich. Es ist fraglich, ob die in der Entwurfsbegründung angeführten Gründe des einfachen Verwaltungsvollzugs diese Diskriminierung gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften rechtfertigen können. In Bezug auf nicht wiederverheiratete Witwen und Witwer bestehen wesentliche Unterschiede, so dass die dort maßgeblichen Rechtfertigungsgründe vorliegend nicht zum Tragen kommen.

Die Einkommensprüfung unter Anknüpfung an das zu versteuernde Einkommen im vorvergangen Jahr kann gerade bei Renteneintritt dazu führen, dass viele Personen erst mit einer Verzögerung von zwei Jahren voll von der Grundrente profitieren. Anders als bei der Einkommensermittlung bei Selbstständigen nach § 240 SGB V in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich dieser Nachteil gegenüber einer Anknüpfung an das aktuelle Einkommen durch Einkommensschwankungen im Zeitverlauf ausgleicht. Da vor Rentenbeginn ohnehin stets eine individuelle Bearbeitung jedes einzelnen Leistungsfalls erfolgt, könnte zumindest für die ersten beiden Jahre des Rentenbezugs auf Antrag der Versicherten eine abweichende Einkommensermittlung zugelassen werden.

Die Anrechnung von 40 Prozent des die Freigrenzen übersteigenden Einkommens erscheint im Hinblick auf entsprechende Regelungen z.B. bei Renten wegen Todes (§ 97 Abs. 2 SGB VI) oder Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (§ 96a Abs. 1a SGB VI) als sachgerecht.

Ausweitung der Freibeträge (Art. 2 bis 5)

Positiv bewertet der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. die volle Gewährung der nach Art. 2 bis 5 vorgesehen Freibeträge bereits ab 33 Jahren Grundsicherungszeiten. Darüber hinaus hält er aber eine Ausweitung der geplanten Renten-Freibeträge bei der Grundsicherung im Alter und beim Wohngeld auf alle Berechtigten für notwendig. Nur ein solcher allgemeiner Freibetrag gewährleistet, dass Versicherte, die gearbeitet und Rentenversicherungsbeiträge abgeführt haben, im Alter tatsächlich mehr Geld zur Verfügung haben als Menschen, die nie gearbeitet oder keine Beiträge gezahlt haben.

Potsdam, den 20.01.2020

Monika Paulat
Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstag e.V.


[1] Referentenentwurf des BMAS zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der Grundrente für langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte mit unterdurchschnittlichem Einkommen und für weitere Maßnahmen zur Erhöhung der Alterseinkommen (Grundrentengesetz – GruReG), Stand 21.05.2019, aktuell Stand 16.01.2020.