Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Namen des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. (DSGT) bedanke ich mich für die Möglichkeit, zu dem im Betreff genannten Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten (im Folgenden: RefE) Stellung zu nehmen. 

Im Folgenden wird nur zu den für die Sozialgerichtsbarkeit relevanten Regelungen des Entwurfs Stellung genommen. 

I. Zusammenfassung

Der DSGT bewertet die geplanten Änderungen, soweit sie die Sozialgerichtsbarkeit betreffen, grundsätzlich positiv. Allerdings erfordert der Einsatz von Videokonferenztechnik eine angemessene technische und personelle Ausstattung der Gerichte sowie die Verfügbarkeit eines leistungsfähigen Videokonferenzsystems, das auch den Anforderungen des Datenschutzes und des Beratungsgeheimnisses genügt (dazu II.). An einzelnen Stellen sieht der DSGT Änderungs- bzw. Nachbesserungsbedarf:

  • Ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern sollte – entsprechend der aus Anlass der Corona-Pandemie geschaffenen Sonderregelung des § 211 Abs. 2 SGG (i.d. Fassung vom 29.5. bis 31.12.2020) – eine virtuelle Teilnahme an Beratungen und Abstimmungen gestattet werden können, soweit Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung ergehen oder es sich lediglich um eine Nachberatung handelt, etwa über in der mündlichen Verhandlung noch nachgelassene Schriftsätze (dazu III.). 
  • Der Ausschluss der Anwendbarkeit des § 193 Abs. 1 GVG-E in § 61 Abs. 2 Satz 2 SGG-E (keine Beratungen per Bild- und Tonübertragung) stellt einen deutlichen Rückschritt gegenüber dem bisherigen Rechtszustand dar und sollte deshalb überdacht werden, weil und soweit er auch Beratungen und Abstimmungen erfasst, die – insbesondere bei Beschlüssen – nur unter den Berufsrichterinnen und Berufsrichtern der Senate eines LSG und des BSG stattfinden (dazu IV.).
  • Die Entscheidung über die Gestattung nach § 110a Abs. 2 und 3 SGG-E sollte – wie bei § 128a ZPO-E – der oder dem Vorsitzenden obliegen, nicht dem „Gericht“ (dazu V.4.a).
  • In die Verweisungsvorschrift des § 110a Abs. 6 SGG-E sollte auch die Regelung des Abs. 3 aufgenommen werden, da auch in Erörterungsterminen Zeugen und Sachverständige befragt werden können (dazu V.4.c). 
  • Das Recht des Rechtsmittelgerichts, die unmittelbare Aufzeichnung der Aussagen von Zeugen und Sachverständigen verschriftlichen zu lassen, sollte eingeschränkt werden (dazu V.3.).

II. Grundsätzliche Bewertung

Der DSGT begrüßt die geplanten Änderungen, soweit sie die Sozialgerichtsbarkeit betreffen, grundsätzlich. Ob die Regelungen in der vorgeschlagenen Form für andere Gerichtsbarkeiten, insbesondere die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Arbeitsgerichtsbarkeit, sachgerecht sind, ist hier nicht zu bewerten.

Positiv bewertet wird, dass der RefE die sehr weitgehenden Regelungen des § 128a ZPO-E mit der Möglichkeit einer Anordnung auch von vollvirtuellen Verhandlungen und einer Ermessenseinschränkung bei übereinstimmenden Anträgen der Beteiligten für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit nicht übernimmt, sondern in § 110a Abs. 2 und 3 SGG-E auch weiterhin nur eine Gestattungsmöglichkeit für Verfahrensbeteiligte, Zeugen und Sachverständige vorsieht und dem Gericht insoweit ein uneingeschränktes Ermessen einräumt. Hierdurch wird der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens und der besonderen Fürsorgepflicht des Staates gegenüber den oftmals körperlich, gesundheitlich und/oder sozial benachteiligten und vielfach auch gerichtsunerfahrenen Rechtsschutzsuchenden in der Sozialgerichtsbarkeit angemessen Rechnung getragen. Das besondere Bedürfnis dieser Personen, einen möglichst leichten Zugang zu einer mündlichen Verhandlung zu eröffnen, wird mit dem in der Begründung des RefE hervorgehobenen öffentlichen Interesse einer schnellen, kostengünstigen, ressourcenschonenden und nachhaltigen Verfahrensgestaltung ausgewogen in Einklang gebracht. Dabei kann eine Erleichterung des Zugangs zu einer mündlichen Verhandlung im Einzelfall, etwa bei körperlich beeinträchtigten Personen, die technisch versiert sind, gerade auch in der Gestattung einer virtuellen Teilnahme bestehen. Zugleich betont der RefE zutreffend auch die besondere Rolle der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter in der Sozialgerichtsbarkeit. 

Die mündliche Verhandlung unter Anwesenheit aller Beteiligten und des Gerichts sollte nach Ansicht des DSGT – jedenfalls in der Sozialgerichtsbarkeit – auch künftig der Regelfall sein und die virtuelle Teilnahme für alle Beteiligten freiwillig. In diesem Zusammenhang spricht sich der DSGT dafür aus, die Umsetzung und Nutzung der neuen Regelungen in der gerichtlichen Praxis kritisch zu beobachten und zu begleiten. 

Grundvoraussetzung für die Durchführung von mündlichen Verhandlungen und Beratungen unter Einsatz von Videokonferenztechnik ist jedoch eine angemessene technische und personelle Ausstattung der Gerichte im Bereich der IT. Hierfür müssen der Bund und die Länder gemeinsam Sorge tragen. Zudem müssen beim Einsatz von Videokonferenztechnik die Einhaltung des Beratungsgeheimnisses und der Schutz der personenbezogenen Daten aller Beteiligten, insbesondere entsprechend den Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung, gewährleistet sein. Die eingesetzte Videokonferenzsoftware muss den besonderen Anforderungen und Bedürfnissen eines gerichtlichen Verfahrens (u.a. einfache Bedienbarkeit, Ausfallsicherheit, Möglichkeit der Beteiligten, sich mit ihren Bevollmächtigten und Beiständen in einen geschützten Raum zur Beratung zurückzuziehen), angemessen Rechnung tragen. Insofern sollte der Bund im Rahmen des bereits in der Entwicklung befindlichen Videoportals der Justiz die Verantwortung dafür übernehmen, dass diesen Anforderungen – auch aus Sicht der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder – Rechnung getragen wird. Die Prüfung der Datenschutzkonformität darf nicht auf die Gerichte abgewälzt werden. 

III. Gestattungsmöglichkeit auch für ehrenamtliche Richterinnen und Richter 

Der DSGT erkennt an, dass die vorgenannten Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens grundsätzlich auch die persönliche Anwesenheit der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter in der mündlichen Verhandlung erfordern und deshalb gegen eine Gestattungsmöglichkeit sprechen, wie sie die aus Anlass der Corona-Pandemie geschaffene Sonderregelung des § 211 Abs. 1 SGG[1] vorsah. Allerdings erscheint eine physische Anwesenheit der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter im Gericht auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht zwingend erforderlich, soweit es sich nur um Beratungen und Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 124 Abs. 2 SGG) oder um Nachberatungen, etwa über in der mündlichen Verhandlung noch nachgelassene Schriftsätze[2] handelt. Entsprechend der aus Anlass der Corona-Pandemie geschaffenen Sonderregelung des § 211 Abs. 2 SGG[3] sollte den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit hier eine Gestattungsmöglichkeit eröffnet werden. Die Regelung des § 211 Abs. 2 SGG a.F. hat sich während des Vorliegens einer pandemischen Lage bewährt. Hierdurch kann im Einzelfall auch den individuellen Interessen der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter Rechnung getragen werden, deren Reisefähigkeit z.B. aufgrund einer gesundheitlichen Beeinträchtigung eingeschränkt ist. Zugleich kann hierdurch der in der Praxis zu beobachten Tendenz der Sozialgerichte, von der Entscheidungsform des Gerichtsbescheides[4] zu extensiv Gebrauch zu machen, entgegengewirkt und so die Rolle der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter in der Sozialgerichtsbarkeit gestärkt werden. Gefahren für das Beratungsgeheimnis kann durch geeignete – von der oder dem Vorsitzenden zu überwachende – technische und organisatorische Maßnahmen begegnet werden, insbesondere den Einsatz eines Videokonferenzsystems entsprechend den bereits beschriebenen Anforderungen (dazu II.).

Insofern wird vorgeschlagen, die am 31.12.2020 außerkraftgetretene Regelung des § 211 Abs. 2 SGG a.F. erneut und unabhängig vom Vorliegen einer pandemischen Lage aufzugreifen.  

In diesem Zusammenhang möchte der DSGT noch auf ein weiteres praktisches Problem hinweisen, das im Rahmen des vorliegenden Gesetzgebungsvorhabens mit geregelt werden könnte: Die flächendeckende Einführung der elektronischen Akte und des elektronischen Rechtsverkehrs machen es erforderlich, auch den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern einen sicheren Übermittlungsweg für die Kommunikation mit den Gerichten zur Verfügung zu stellen, etwa um ihnen die Akteneinsicht zu ermöglichen oder vorbereitende Unterlagen für die mündliche Verhandlung übersenden zu können. Zweckmäßig erschiene hier die (kostenfreie) Einrichtung eines elektronischen Bürger- und Organisationenpostfachs[5] ausschließlich für die ehrenamtliche richterliche Tätigkeit. 

IV. Sonderregelung für die Beratung, § 61 Abs. 2 Satz 2 SGG-E 

Nach § 193 Abs. 1 GVG-E können die Beratung und die Abstimmung mit Einverständnis aller zur Entscheidung berufenen Richter ganz oder teilweise per Bild- und Tonübertragung durchgeführt werden. Die Wahrung des Beratungsgeheimnisses ist dabei durch organisatorische und technische Maßnahmen sicherzustellen. Nach § 61 Abs. 2 Satz 2 SGG‑E soll diese Regelung im sozialgerichtlichen Verfahren keine Anwendung finden. Begründet wird dies damit, dass die Beratung und Abstimmung im Sozialgerichtsverfahren „weiterhin vor Ort in Präsenz aller zur Entscheidung berufener Richterinnen und Richter erfolgen“ sollen. Die Regelung erfolge im Einklang mit der weiterhin erforderlichen Präsenz aller zur Entscheidung berufener Richterinnen und Richter im Sitzungszimmer während der mündlichen Verhandlung und soll der herausragenden Bedeutung der unmittelbaren Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter an der Verhandlung Rechnung tragen.[6]

Die Begründung geht ersichtlich davon aus, dass Beratungen und Abstimmungen nach aktueller Rechtslage nur unter persönlicher Anwesenheit der zur Entscheidung berufenen Richterinnen und Richter stattfinden können, und sie nimmt nur die Beratungen und Abstimmungen mit den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern nach einer mündlichen Verhandlung in den Blick.

Allerdings findet ein Großteil der Beratungen und Abstimmungen bei den Landessozialgerichten und beim Bundessozialgericht nur unter den Berufsrichterinnen und Berufsrichtern statt. Dies betrifft insbesondere eine Vielzahl von Beschlüssen, die ohne mündliche Verhandlung ergehen.[7] (Jedenfalls) Hier können – was in der Begründung zu § 193 Abs. 1 GVG-E zutreffend hervorgehoben wird[8] – nach der aktuellen Rechtsprechung des BFH und des BGH Beratung und Abstimmung auch im Rahmen einer Videokonferenz stattfinden.[9] Dafür muss gewährleistet sein, dass bei gleichzeitiger Teilnahme sämtlicher an der Entscheidung beteiligter Richter unter der Leitung der oder des Vorsitzenden der einzelne Richter jederzeit und zeitgleich mit den anderen an der Entscheidung beteiligten Richtern kommunizieren kann und alle beteiligten Richter die gesamte Kommunikation in Ton und Bild mitverfolgen können, sowie dass alle Richterinnen und Richter des Spruchkörpers mit dieser Verfahrensweise einverstanden sind und sie bis zum Abschluss der Abstimmung jederzeit die Möglichkeit haben, auf der Durchführung einer Präsenzberatung und -abstimmung zu bestehen.[10] Diskutiert wird in diesem Zusammenhang lediglich, ob die aus Anlass der Corona-Pandemie eingefügte Sonderregelung des § 211 Abs. 2 SGG auf die aktuelle Rechtslage in dem Sinne nachwirkt, dass eine Zuschaltung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter zur Beratung und Abstimmung bei Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung nur vorübergehend erlaubt war. Dies wird aber überwiegend verneint.[11]

Mit der geplanten Neuregelung des § 61 Abs. 2 Satz 2 SGG würde man danach jedenfalls hinsichtlich der Berufsrichterinnen und Berufsrichter der Landessozialgerichte und des Bundessozialgerichts deutlich hinter den bisherigen status quo zurückgehen und diesen so auch die Möglichkeit nehmen, ihre gemeinsame Zusammenarbeit im Senat unter Einsatz moderner Videokonferenztechnik flexibel zu gestalten und auf diese Weise etwa auch eine Vereinbarkeit beruflicher und familiärer Belange zu gewährleisten. Dieser Rückschritt gegenüber der bisherigen Rechtslage ist mit den in der Begründung des RefE angeführten Besonderheiten der Sozialgerichtsbarkeit nicht zu erklären. Denn diese sind bei der Beratung und Abstimmung von Beschlüssen der Berufsrichterinnen und -richter nicht tangiert.    

Hinzu kommt, dass in der Rechtsprechung auch anerkannt ist, dass Beschlüsse von untergeordneter Bedeutung im Umlaufverfahren getroffen werden können.[12] Es ist aber schwer einzusehen, dass eine Entscheidung im Umlaufverfahren – etwa bei der Verwerfung unzulässiger Rechtsbehelfe – den Anforderungen des § 193 GVG genügen soll, eine Beratung und Abstimmung per Videokonferenz dagegen nicht.[13]

Auf die Ausnahmeregelung des § 61 Abs. 2 Satz 2 SGG-E sollte deshalb verzichtet werden. Jedenfalls sollte sie – auch unter Berücksichtigung der Ausführungen unter III. – dahingehend eingeschränkt werden, dass sie ausschließlich für die gemeinsame Beratung und Abstimmung mit den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern bei einer Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung gilt. 

V. Stellungnahme zu weiteren Regelungen

1. Art. 1 Nr. 1 – § 185 Abs. 1a GVG-E

Der Systematik des § 110a SGG entspräche es, auch bei Dolmetscherinnen und Dolmetschern (wie bei Sachverständigen) die in § 185 Abs. 1a GVG-E geplante Anordnungsmöglichkeit nicht zu übernehmen und es für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit bei der bisherigen Gestattungsmöglichkeit zu belassen. Allerdings erfüllen Dolmetscherinnen und Dolmetscher im sozialgerichtlichen Verfahren eine Unterstützungsfunktion und haben keine eigenen prozessualen Rechte. Insofern erscheint es durchaus sachgerecht, die Entscheidung über deren Teilnahme im Wege der Videokonferenz vollständig in die Hand der oder des Vorsitzenden, der oder die in der Regel die Ladung der Beteiligten verfügt, zu legen, auch um Unsicherheiten hinsichtlich des Verlaufs der Sitzung zu vermeiden und diese besser planen zu können. 

2. Art. 3 Nr. 6 – § 129a ZPO-E 

Der DSGT begrüßt grundsätzlich die Absicht der Einführung des § 129a Abs. 2 ZPO-E. Durch virtuelle Rechtsantragsstellen in Form eines zusätzlichen Angebots wird ein moderner und gleichermaßen niedrigschwelliger zusätzlicher Zugang zu Rechtsschutz geschaffen. Die Virtualisierung der Rechtsantragsstelle ist ferner geeignet, den hoch belasteten gehobenen nicht-richterlichen Bereich, der in der Sozialgerichtsbarkeit üblicherweise nicht mit Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger besetzt ist, weiter zu entlasten, indem dessen Tätigkeit zeitlich effizienter möglich wird. Ferner lässt § 129a Abs. 2 ZPO-E die Übernahme von Tätigkeiten einer Rechtsantragsstelle auch aus dem Homeoffice und nötigenfalls auch gerichtsübergreifend zu, wodurch die Gerichtsorganisation weitere Flexibilität erhält.     

Zur weiteren Entlastung der Rechtsantragsstelle sollte hier auch eine entsprechende Anwendung von § 160a Abs. 1 und 2 ZPO-E erwogen werden, insbesondere die Möglichkeit des § 160a Abs. 2 ZPO, die (vorläufige) Aufzeichnung nicht zwingend zu verschriftlichen, soweit lediglich Erklärungen, nicht aber Anträge, aufzunehmen sind. Die schriftliche Protokollierung von Erklärungen nimmt in den Rechtsantragstellen der Sozialgerichte teilweise erheblich Arbeitskraft in Anspruch, die durch die unmittelbare Aufzeichnung für vordringlichere Tätigkeiten frei wird. Ferner gibt das Ergebnis der unmittelbaren Aufzeichnung authentischer die Erklärung wieder als eine möglicherweise zusammenfassende oder interpretierende Verschriftlichung durch den Protokollierenden.

3. Art. 3 Nr. 8 – § 160a Abs. 1 und 2 ZPO-E

Die vorläufige Aufzeichnung des Inhalts des Protokolls mittels Diktiergeräts ist in den Instanzgerichten längst der Regelfall. Die Modernisierung der Textfassung mit einer technikoffenen Formulierung wird begrüßt. 

Bei Beweisaufnahmen ist eine unmittelbare Aufzeichnung dem Richterdiktat nicht nur im Hinblick auf die Authentizität des Protokolls deutlich überlegen. Der Beweiswert ist dadurch erheblich erhöht, denn notwendigerweise enthält das Richterdiktat bereits Interpretationen und die Zusammenfassung der protokollierten Erklärungen. Ferner kann die oder der Vorsitzende sich besser auf die Aussage an sich konzentrieren, weil sie oder er nicht gleichzeitig stichpunktartig die Erklärungen zum Zwecke des späteren Diktats mitschreiben muss. Die unmittelbare Aufzeichnung erlaubt auch, den Verlauf der mündlichen Verhandlung wesentlich zu straffen, weil das bisher sehr zeitaufwendige Richterdiktats und ggf. das nochmalige Vorspielen und Korrigieren der vorläufigen Aufzeichnung entfällt.

Folgerichtig und im Hinblick auf die personellen Ressourcen der Gerichte zu begrüßen, ist auch die Erweiterung des § 160a Abs. 2 ZPO-E. Von dieser Möglichkeit wird bereits jetzt gerade bei aufwändigen Zeugenvernehmungen anstelle des zuvor üblichen Richterdiktats Gebrauch gemacht. Noch nicht geklärt ist durch die Rechtsprechung allerdings, ob im sozialgerichtlichen Prozess, der die Parteivernehmung nicht kennt, die unmittelbare Aufzeichnung auch bei der Befragung der Beteiligten zulässig ist. Nicht unmittelbar aufgezeichnet werden darf das Rechtsgespräch. Die informelle Anhörung eines Beteiligten, die in der sozialgerichtlichen Praxis eine große Bedeutung hat, ist aber – ähnlich der Parteivernehmung in der ZPO – dem Beweisrecht angenähert. Es spricht deshalb vieles dafür, dass auch sie – sofern sie klar vom Rechtsgespräch inhaltlich getrennt werden kann – unmittelbar auf Tonträger aufgenommen werden darf und dieser Inhalt in der Entscheidung verwertbar ist.[14] Dies sollte bei Gelegenheit der vorliegenden Reform klargestellt werden. Jedoch dürfte in diesem Fall eine anschließende Verschriftlichung im Protokoll stets erforderlich sein. Denn der Beteiligtenvortrag ist dem schriftlichen Vortrag in Schriftsätzen gleichrangig und sollte deshalb in gleicher Form Bestandteil der (elektronischen) Akte werden.  

In diesem Zusammenhang weist der DSGT allerdings darauf hin, dass die Verschriftlichung von Wortprotokollen erhebliche Ressourcen in den Geschäftsstellen der Gerichte bindet, die ohnehin zumeist deutlich überlastet sind. Hierdurch könnten sich Verfahrenslaufzeiten weiter erhöhen. Und dies könnte für die Gerichte auch ein Umstand sein, in der Praxis von der Möglichkeit einer unmittelbaren Aufzeichnung nur sehr zurückhaltend Gebrauch zu machen. Insofern ist es zwingend erforderlich, diese zusätzliche Aufgabe der Geschäftsstellen bei der personellen Ausstattung der Gerichte zu berücksichtigen. 

Das Rechtsmittelgericht sollte kein Recht auf eine Verschriftlichung durch das Ausgangsgericht haben; zum einen kann der dortige Spruchkörper selbst und im eigenen Gericht die Verschriftlichung verfügen, ohne dass dies das Ausgangsgericht belastet. Ferner ist zu beachten, dass die Authentizität einer Ton- oder Ton- und Bildaufzeichnung und damit ihr Beweiswert ohnehin ausschließlich höher ist, als die Verschriftlichung, weshalb für die Verschriftlichung kein schützenswertes Interesse des Rechtsmittelgerichts ersichtlich ist.

4. Art. 7 Nr. 4 – § 110a SGG-E

a) Abs. 2 und 3 – Gestattung durch die/den Vorsitzende/n 

Die Entscheidung über die Gestattung der virtuellen Teilnahme an der Verhandlung sollte – entsprechend § 128a ZPO-E – der oder dem Vorsitzenden obliegen und nicht dem „Gericht“.

Dass die Übertragung der Entscheidungsbefugnis auf die oder den Vorsitzende/n rechtfertigende Interesse an einer Flexibilisierung der Entscheidung[15] besteht in gleicher Weise auch in der Sozialgerichtsbarkeit. Gestattungsanträge nach § 110a SGG-E werden in der Praxis oftmals erst sehr kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellt und müssen dann im Interesse der Antragstellenden auch sehr schnell beschieden werden. Die Herbeiführung einer Entscheidung des gesamten Spruchkörpers begründet für die Gerichte in diesen Fällen einen erheblichen Aufwand. 

b) Abs. 4 – vorläufige Aufzeichnung

Auch hier wird darauf hingewiesen, dass die nachträgliche Verschriftlichung der vorläufigen Aufzeichnung von Videoverhandlungen in den Geschäftsstellen der Gerichte ganz erhebliche Ressourcen bindet. 

c) Abs. 6 – Erörterungstermine 

Für Erörterungstermine sollen nach § 110a Abs. 6 SGG-E nur die Absätze 1, 2, 4 und 5 gelten und damit – wie bislang – nicht § 110a Abs. 3 SGG-E, der die Gestattung der Teilnahme per Bild- und Videoübertragung auch für Zeugen und Sachverständige vorsieht. Begründet wird dies damit, dass in Erörterungsterminen keine Beweisaufnahme stattfinde.[16] Dies vermag indes nicht zu überzeugen.[17]

Nach § 106 Abs. 2 SGG hat die oder der Vorsitzende bereits vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Zu diesem Zweck kann er auch „Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen“.[18] § 106 Abs. 4 SGG ordnet insoweit ausdrücklich die entsprechende Geltung der §§ 116 und 118 SGG an, nicht aber des § 117 SGG, der den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme regelt.[19] Beweisaufnahmen sind deshalb nach allgemeiner Ansicht auch im Rahmen von Erörterungsterminen möglich. Bei Zeugen kann sich dies etwa anbieten, wenn deren Glaubwürdigkeit unproblematisch und ein unmittelbarer Eindruck des gesamten Spruchkörpers von der Aussage deshalb nicht erforderlich ist. Erforderlich sein kann eine Zeugenvernehmung in einem Erörterungstermin etwa auch, um einem Sachverständigen vorgeben zu können, von welchem streitigen Sachverhalt er auszugehen hat.[20]

Der Verweis in § 110a Abs. 6 SGG-E sollte daher auch auf Abs. 3 erstreckt werden.  

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Miriam Meßling
Präsidentin
Deutscher Sozialgerichtstag e.V.
www.sozialgerichtstag.de


[1] In der Fassung vom 29.5. bis 31.12.2020.
[2] § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 283 ZPO; vgl. dazu BVerwG v. 13.11.2017 – 4 B 23.17.
[3] In der Fassung vom 29.5. bis 31.12.2020.
[4] § 105 SGG.
[5] Vgl. § 65a Abs. 4 Nr. 4 SGG, §§ 10 ff. ERVV.
[6] RefE S. 57f. zu Art. 7 Nr. 1.
[7] Vgl. z.B. § 153 Abs. 4, § 158, § 176 SGG, § 160a Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. § 169 SGG.
[8] RefE S. 31 zu Art. 1 Nr. 2.
[9] BFH v. 10.2.2021 – IV R 35/19; BGH v. 6.11.2020 – LwZR 2/20; vgl. zuvor bereits BGH v. 29.11.2013 ‑ BLw 4/12; s. dazu für die Sozialgerichtsbarkeit eingehend Meßling in Schlegel/Meßling/Bockholdt, Corona-Gesetzgebung, 2. Aufl. 2022, § 20 Rn. 33 ff.; Müller in jurisPK-ERV, § 110a Rn. 25.4.
[10] BFH v. 10.02.2021 – IV R 35/19.
[11] Effer-Uhe, MDR 2020, 773, 775, Rn. 12; Meßling in Schlegel/Meßling/Bockholdt, Corona-Gesetzgebung, 2. Aufl. 2022, § 20 Rn. 38 ff.; a.A. Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 193 Rn. 3.
[12] BGH v. 28.11.2008 ‑ LwZR 4/08, Rn. 8; BVerwG v. 13.11.2017 ‑ 4 B 23/17, Rn. 17.
[13] Vgl. dazu auch Berlit, jM 2020, 310 ff.; Effer-Uhe, MDR 2020, 773, 774.
[14] Müller, in jurisPK-ERV § 110a SGG Rn. 58.
[15] S. zu § 128a ZPO-E den RefE S. 20 zu II.1.a.
[16] Begründung RefE S. 60.
[17] Vgl. zur bisherigen Regelung bereits Schweitzer, SGb 2022, 90 f.; Stäbler in jurisPK-SGG, § 110a Rn. 13.
[18] § 106 Abs. 3 Nr. 7 SGG.
[19] Vgl. Bergner in jurisPK-SGG, § 117 Rn. 15.
[20] § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 404a Abs. 3 ZPO; vgl. dazu Mushoff in jurisPK-SGG, § 106 Rn. 98 m.w.N.

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