Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket)

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. erlaubt sich auch in Kenntnis dessen, dass der Bundestag heute bereits  das Sozialschutz-Paket beschlossen hat, sich zu Wort zu melden. Damit möchte er auch sein Bedauern darüber artikulieren, wie andere Verbände auch, nicht angehört worden zu sein. Wir erkennen selbstverständlich die Eilbedürftigkeit des Gesetzgebungsverfahrens an. Dennoch darf auch und gerade in Krisenzeiten rechtsstaatliches Verfahren nicht in den Hintergrund treten.

Die Stellungnahme basiert auf der Zuarbeit der Kommission SGB II des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. unter dem Vorsitz von Gerd Goldmann.

Der Deutsche Sozialgerichtstag e. V. unterstützt grundsätzlich eine angemessene Reaktion auf die Problemlagen, die durch die Corona-Pandemie in den sozialen Sicherungssystemen hervorgerufen werden. Es ist nachvollziehbar, dass die besondere Lage der betroffenen Menschen zum Teil eine (vorübergehend) unkonventionelle Existenzsicherung insbesondere in den Sozialgesetzbüchern II und XII erforderlich macht. Allerdings müssen auch in diesen Zeiten die Grundsätze des Sozialstaates (wie des Rechtsstaates) eingehalten werden. Hier erweisen sie ihre Tragfähigkeit. Vor diesem Hintergrund nehmen wir zu einzelnen Vorschriften des Entwurfes eines Sozialschutz-Paketes wie folgt Stellung:

1. Zu Art. 1 Ziffer 2. (§ 67 SGB II)

Entscheidend ist aus Sicht des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. , dass die hier geschaffenen Regelungen als Ausnahmeregelungen mit ausdrücklich begrenzter Geltungsdauer eingeführt werden und dies durchgängig festgestellt wird. Anderenfalls würden die grundsätzlichen Prinzipien der Leistungsgewährung nachhaltig in Frage gestellt.

a) § 67 Absatz 1 SGB II – GE (Grundsatz)

Nach dem Wortlaut der Regelung fallen sämtliche Anträge, die in dem angegebenen Zeitraum beginnen, unter die Sonderregelungen. Das betrifft auch Anträge der Weitergewährung. Allerdings zielen die Sonderregelungen vorrangig auf die Fälle – insbesondere Selbständiger – die innerhalb des Zeitraums einen Erstantrag auf Leistungsgewährung wegen der Krisensituation stellen; dies betrifft insbesondere die Vermögensprüfung nach § 67 Abs. 2 SGB II – GE. Auch für bereits laufende Leistungsfälle gilt aber die Überlegung, dass eine Reduzierung unangemessen hoher Aufwendungen für Unterkunft und Heizung aktuell nicht möglich ist.

b) § 67 Absatz 2 SGB II- GE (Vermögensprüfung)

Die vorgesehene Erleichterung des Leistungszugangs durch ein Absehen von einer Vermögensverwertung erscheint in der Umsetzung sehr problematisch. Das grundsätzliche Absehen von einer Berücksichtigung vorhandenen Vermögens durchbräche den Nachranggrundsatz. Insoweit halten wir es für systematisch erforderlich, eine Vermögensprüfung nach den geltenden Grundsätzen nachzuholen, sobald der Übergangszeitraum beendet ist.

Die Einführung des Begriffs „erhebliches Vermögen“ ist mit dem Zweck des Gesetzes nicht vereinbar. Zum einen sollen wirtschaftliche Auswirkungen der COVID-19-Pandemie abgemildert werden und zum anderen sollen die Jobcenter entlastet werden. Diese Ziele werden nicht erreicht, wenn ein neuer unbestimmter Rechtsbegriff eingeführt wird. An dieser Einschätzung ändert auch § 67 Abs. 2 S. 2. HS 2 SGB II – GE nichts. Die gesetzliche Vermutung, dass die Angabe des Antragstellers, es läge kein erhebliches Vermögen vor, zutreffend ist, ist widerlegbar. Damit löst die entsprechende Angabe des Antragstellers den Amtsermittlungsgrundsatz für das Jobcenter aus, sodass im Ergebnis eine Prüfung (mag diese auch auf bloße Anhaltspunkte der Unrichtigkeit der Angaben beschränkt bleiben) durch das Jobcenter zu erfolgen hat.

Die Gesetzesbegründung führt zu weiteren Unklarheiten. So entsteht der Eindruck, dass der Gesetzentwurf davon ausgeht, dass der Begriff „erhebliches Vermögen“ mit dem Begriff „verwertbares Vermögen“ identisch sein soll. Schließlich wird in der Gesetzesbegründung (Seite 27) dargestellt, dass bisher eine Prüfung zu erfolgen habe, ob „….erhebliches verwertbares Vermögen vorliegt …“. Es wird darauf hingewiesen, dass diese Prüfung oft sehr aufwendig ist. Dieser Aufwand soll dadurch verhindert werden, dass die Antragsteller lediglich erklären müssen, „nicht über erhebliche Vermögenswerte zu verfügen“. Daraus ergibt sich, dass der Gesetzentwurf „erhebliches Vermögen“ und „verwertbares Vermögen“ gleichsetzt. Jedenfalls lassen der Gesetzestext und die Gesetzesbegründung mehrere Auslegungsvarianten zu, was die Gesetzesanwendung schwierig machen wird.

Zu bedenken ist dabei auch, dass die Antragsteller in der Regel nicht zwischen „Vermögen“, „verwertbarem Vermögen“ und „erheblichem Vermögen“ unterscheiden können. Die Überwälzung der Verantwortung auf die Antragsteller, die ihr Vermögen als erheblich bzw. nicht erheblich einschätzen sollen, vereinfacht die Sachlage nicht, weil auch die Antragsteller vor der Frage stehen, welchen Begriffsinhalt sie zugrunde legen müssen. Im Zweifel wird dieser Beurteilungsspielraum später zu Gunsten der Antragsteller ausgelegt werden müssen. Im Rahmen von §§ 14; 15 Abs. 1 und 2; 17 Abs. 1 Nr. 3 SGB I und §§ 1 Abs. 3 Nr. 1; 14 Abs. 2 SGB II wären also die Jobcenter zwingend verpflichtet, die Antragsteller umfassend darüber zu beraten, was unter „erheblichem Vermögen“ zu verstehen ist. Dies führt aber zu erheblichem Verwaltungsaufwand, der angesichts der COVID-19-Pandemie nicht geleistet werden kann. Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass falsche Angaben der Antragsteller für diese auch strafrechtliche Relevanz haben können.

Im Ergebnis wird deshalb vorgeschlagen, in § 67 Abs 2 S. 1 SGB II – GE nach den Worten „für die Dauer von sechs Monaten“ das Wort „vorläufig“ einzufügen. § 67 Abs. 2 S. 2 SGB II – GE sollte ersatzlos gestrichen werden.

c) § 67 Absatz 3 SGB II – GE (Wohnkosten)

Es ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, aus welchen Gründen bei der Übernahme unangemessen hoher Aufwendungen für Unterkunft und Heizung zwischen verschiedenen Gruppen von Leistungsberechtigten unterschieden werden soll, bei denen in dem maßgeblichen Geltungszeitraum des Absatzes 1 ein neuer Bewilligungsabschnitt beginnt. Auch Leistungsberechtigte, die sich in der Vergangenheit nicht gegen die Kürzung der Wohnkosten gewandt haben, können in der aktuellen Situation keine neue Wohnung suchen und beziehen. Auch der Gedanke eines früheren Fehlverhaltens (Verweigerung der Kostensenkung trotz bestandskräftige Kostensenkungsaufforderung) kann die Regelung nicht rechtfertigen (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, Rn. 131).

Naheliegender wäre aus unserer Sicht die schlichte Regelung, die Angemessenheitsprüfung nach § 22 Abs. 1 SGB II auszusetzen und bereits eingeleitete Maßnahmen nach § 22 Abs. 1 Satz 2, 3 SGB II für den maßgeblichen Zeitraum des § 67 Abs. 1 SGB II – GE ruhen zu lassen. Folgerichtig wäre daher aus unserer Sicht,  § 67 Abs. 3 Satz 3 SGB II – GE ersatzlos zu streichen.

d) § 67 Absatz 4 SGB II – GE (Vorläufigkeit)

Da insbesondere Erstantragsteller des betroffenen Personenkreises nicht zwingend Kenntnis von der Möglichkeit einer entsprechenden Antragstellung haben werden, wird vorgeschlagen, eine zusätzliche Regelung aufzunehmen, die vorsieht, dass der Bewilligungsbescheid einen Hinweis auf die Antragsmöglichkeit nach § 67 Abs. 4 S. 2 SGB II – GE enthalten muss. Darüber hinaus sollte zur Entlastung der Verwaltung in diesen Fällen hinsichtlich der Berechnung des selbständigen Einkommens in § 3 Absatz 2 Alg II-VO zumindest eine befristete Sonderregelung erwogen werden, mit der bei der endgültigen Festsetzung die steuerrechtliche Gewinnermittlung durch die Finanzämter zugrunde zu legen ist.

Zusätzliche Regelung für notwendige Leistungen zur Eingliederung

Die Vorbemerkung zur Gesetzesbegründung (Seite 27) enthält den zutreffenden Satz: „Es können [zur Vermittlerfirmen Betreuung der selbständig tätigen Personen und zur Wiederaufnahme der bisherigen selbständigen Tätigkeit] die für die Unterstützung des Einzelfalls notwendigen Leistungen zur Eingliederung erbracht werden.“. Mit diesem Anspruch korrespondiert jedoch die bisher vorliegende Fassung des § 67 SGB II – GE nicht unmittelbar. Es wird daher vorgeschlagen, die Aufnahme einer ergänzenden Regelung zu prüfen:

Für den in Absatz 1 genannten Zeitraum gilt § 16b Absatz 1 Satz 1 mit der Maßgabe, dass das Einstiegsgeld bei Vorliegen der Voraussetzungen in der Regel erbracht werden soll.

Für den in Absatz 1 genannten Zeitraum gilt § 16c Absatz 1 Satz 1 mit der Maßgabe, dass in der Regel ein Zuschuss zu gewähren ist. Für den in Absatz 1 genannten Zeitraum gilt für Beträge im Sinne des § 16c Absatz 1 Satz 2 ein Höchstbetrag von 10.000 Euro.

e) § 67 Absatz 5 SGB II – GE (Verzicht auf Antragstellung der Weiterbewilligung)

Ein vollständiger Verzicht auf eine Antragstellung wird grundsätzlich kritisch gesehen. Auch in dieser besonderen Situation sollte berücksichtigt werden, dass üblicherweise am Übergangspunkt der Weiterbewilligung in nennenswerter Zahl keine Anträge auf Weiterbewilligung der bisherigen Leistungen gestellt werden. Häufig ergibt sich in diesen Fällen bei gezielter Ansprache der Betroffenen, dass diese aus unterschiedlichsten Gründen keinen weiteren Antrag wollen. Auch diese Fälle würden schlicht weiter bewilligt werden. Der Satz 2 sollte deshalb um folgenden Halbsatz ersetzt werden:

„..es sei denn, durch den Antragsteller wird eine Weiterbewilligung abgelehnt.“

Dieser Satz birgt das Risiko einer bedenklichen Ungleichbehandlung gerade im Selbständigenbereich zwischen Bestandsfällen und Neuanträgen. Dies kann zur einer Bedarfsunterdeckung führen, denn beispielsweise dürften die Einnahmen eines Kleingewerbes aufgrund der Kontaktsperren unabhängig davon einbrechen, ob er bisher Leistungen des SGB II bezogen hat oder nicht. Aus diesem Grund sollte die Ergänzung des Satzes 3 um folgenden Halbsatz erwogen werden:

„… es sei denn, der Antragsteller macht einen höheren Bedarf glaubhaft.“

2. Zu Art. 4 (Änderung des SGB VI

Die Vervielfachung der Hinzuverdienstgrenze von 6.300,00 Euro auf  44.590,00 Euro und der Verzicht auf die Anwendung des Hinzuverdienstdeckels erscheint unter Berücksichtigung des Zieles dieser Maßnahme angemessen. Beachtet werden sollte jedoch, dass diese Neuregelung auch negative Auswirkungen auf Bestandsrentner haben kann, z.B. bei Krankengeldbezug oder auf einen Betriebsrentenanspruch. Es sollte daher erwogen werden, § 34 SGB VI dahingehend zu ergänzen, dass die befristete Neuregelung ausschließlich eine Zugunstenwirkung hat.

Mit freundlichen Grüßen

gez.

Paulat

Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstages e.V.