Stellungnahme zum Referentenentwurf zur Rentenanpassung 2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir bedanken uns für die Möglichkeit der Stellungnahme zu dem vorliegenden Referentenentwurf. Gleichzeitig beklagen wir ausdrücklich, dass aufgrund der ein weiteres Mal unzumutbar kurzen Fristsetzung von nur drei Arbeitstagen keine gründliche Befassung mit den gesetzgeberischen Wirkungen ermöglicht wird.

Vor diesem Hintergrund nehmen wir zum vorliegenden Referentenentwurf wie folgt Stellung:

Verbesserung bei Renten wegen Erwerbminderung/Tod und Folgerenten

Der Deutsche Sozialgerichtstag e. V. (DSGT) unterstützt die Verbesserungen bei den zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 31.12.2018 begonnenen Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrenten einschließlich evtl. Folgerenten (Rente wegen Alters oder an Hinterbliebene) bei in diesem Zeitfenster zugegangenen Renten. Die Leistungshöhe bei Erwerbsminderungsrente war seit den Reformen zum 1.1.2001 über viele Jahre gesunken, und die Einkommenssicherungsfunktion ging zunehmend verloren. Mit den Verbesserungen, die ab 2014 in mehreren Schritten bis 2019 erfolgten, wurde diesem sozialpolitischen Problem aus Sicht des DSGT adäquat begegnet. Aus rechtssystematischen, finanziellen und anderen Erwägungen wurden diese Verbesserungen jedoch stets nur für nach dem Inkrafttreten neu beginnenden Renten gewährt. Der DSGT hat dies mit Blick auf die zum Teil prekäre Lage der bereits verrenteten Personen stets als unzureichend kritisiert. Erfreulich ist, dass die jetzige Regierungskoalition sich der Sache angenommen hat und nun mit dem vorliegenden Gesetz auch die Erhöhung bereits vor 2019 zugegangener Renten beabsichtigt. Die Staffelung der Abschläge erscheint dabei sachgerecht und entspricht mit dem dadurch möglichen einfachen, pauschalierenden Verfahren den Vorstellungen des DSGT. Der Beginn der Leistung mit dem 1. Juli 2024 ist mit der aktuellen Arbeitsbelastung der Rentenversicherung aufgrund der Grundrente sowie den nötigen Vorarbeiten für die Bescheide plausibel und sachgerecht begründet. Der DSGT will daher nicht das späte Inkrafttreten kritisieren, schlägt aber vor, mit Inkrafttreten einmalig das 12-fache des errechneten Zuschlags als zusätzliche Einmalzahlung zu gewähren, um einen gewissen Ausgleich zu schaffen. Die Mehrkosten von 2,6 Mrd. Euro erscheinen hier mehr als vertretbar.

Änderungen bei der Rentenanpassung und Festsetzung der Rentenerhöhung zum 1. Juli 2022

Der RefE sieht mehrere Änderungen bei der Rentenanpassung vor. Hierzu hebt der DSGT folgende Aspekte hervor:

1) Der vielfach kritisierte statistische Effekt im Lohnfaktor der Rentenanpassungsformel (gemäß §68 SGB VI) bei der Rentenanpassung 2021 soll bereinigt werden. Dieser statistische Effekt basiert auf der Verwendung zweier unterschiedlicher Zeitreihen bei der Lohnentwicklung. Im Ergebnis wies der Lohnfaktor bei der Rentenanpassung 2021 mit minus 2,34 Prozent ein rechnerisch rund 2,1 Prozent zu starkes Minus aus. Außerdem wird durch den gleichen Effekt das Standardrentenniveau (gemäß §154 SGB VI) seitdem mit 49,4 Prozent rund einen Prozentpunkt zu hoch ausgewiesen. Die Bereinigung um statistisch verzerrende Effekte wird vom DSGT ausdrücklich begrüßt. Verteilung und Regeln müssen auf plausiblen, richtigen und nachvollziehbaren Daten basieren. Dieses Manko wird mit dem RefE hinreichend bereinigt. Dazu legt der RefE in §154 Abs. 7 SGB VI RefE ein neues verfügbares Durchschnittsentgelt für 2021 fest.

2) Der Ausgleichsfaktor – sogenannter Nachholfaktor – soll reaktiviert werden. Dazu ist zunächst ein Ausgleichsbedarf durch das Gesetz festzulegen, da bei der Rentenanpassung 2021 ein solcher nicht berechnet wurde. Insofern bereinigt der RefE das ansonsten unveränderte rechnerische Ergebnis der Rentenanpassungsformel aus der Rentenanpassung 2021 um den statistischen Effekt, so dass der Ausgleichsbedarf 1,17 Prozent entspricht. Der DSGT weist an dieser Stelle darauf hin, dass die offizielle politische Begründung, wie auch die Begründung im RefE, die Reaktivierung des Ausgleichsfaktors damit begründet, dass die Renten und die Löhne nach der Krise nicht auseinanderlaufen sollen. Diese Begründung deckt sich nicht mit dem vorliegenden Ausgleichsbedarf, denn dieser besteht überwiegend aus der die Rentenanpassung mindernden Wirkung des Nachhaltigkeitsfaktors (nicht zu verwechseln mit dem „Nachholfaktor“). Unabhängig davon, wie man politisch zur Verteilungswirkung des Nachhaltigkeitsfaktors steht, hat dieser bei der Rentenanpassung 2021 eine negative Wirkung gehabt, was bedeutet, dass er die Rentenerhöhung von der Lohnerhöhung abkoppelt. Wird dieser Effekt nun auch nachgeholt, dann deckt sich dies nicht mit dem Argument des RefE, Ziel sei, dass Renten und Löhne nicht entkoppelt würden. Aus Sicht des DSGT sollten die Renten ebenso stark wie die Löhne steigen, um dem Anspruch einer Lohnersatzleistung auch langfristig gerecht zu werden. Dem steht der Ausgleichsfaktor strukturell eher entgegen.

3) Die Neuregelungen, die im Rahmen der Reaktivierung des Ausgleichsfaktors nötig werden, verschlimmern ein vom DSGT seit langem kritisiertes Problem: Die Rentenanpassung ist faktisch selbst von Fachleuten kaum noch nachvollziehbar, jedenfalls in ihrer Wirkung nicht mehr transparent. Der Gesetzestext zur Rentenanpassung ist bis zur Unkenntlichkeit und Inpraktikabilität aufgebläht. Umfassten die Regeln zur Rentenanpassung bisher schon gut 16.000 Zeichen, so sind dies nach dem RefE nunmehr über 20.000 Zeichen. Der RefE ergänzt für die Rentenanpassung drei neue Paragrafen und zwei Absätze. Der offizielle Zusammenhang, nachdem sich die Renten grundsätzlich wie die Löhne entwickeln, ist nur noch ein Feigenblatt, denn er geht in der Vielzahl an Ausnahmeregelungen, die die Rentenentwicklung aus vielfältigen Gründen regelmäßig faktisch von der Lohnentwicklung abkoppeln, verloren. In die Rentenanpassung fließen Werte aus verschiedenen Quellen und verschiedenen Zeitreihen ein. Die Rentenanpassungsformel (§68 SGB VI) wird gefolgt von der Schutzklausel inkl. Ausgleichsfaktor (§68a SGB VI), ergänzt um das Mindestsicherungsniveau (§255e SGB VI) und modifiziert durch die Übergangsregelungen in den §§ 255 h bis 255 j SGB VI. Eine von der Lohnentwicklung in beide Richtungen abweichende Rentenanpassung wird damit zur Regel, ohne dass dabei für den verständigen Laien nachvollziehbar wäre, wie sich das Ergebnis berechnet. Der DSGT rät dringend, die vielfältigen Regelungen großzügig zu bereinigen und die ihnen innewohnenden Konflikte politisch zu lösen und nicht durch immer weitere Korrekturen an den Korrekturen zu verschlimmern.

4) Zu begrüßen ist aus Sicht des DSGT die Änderung der Berechnung der Äquivalenzbeitragszahler im Nachhaltigkeitsfaktor. Damit kann und soll dessen Wirkung in verschiedenen Jahren geglättet werden. Dieses Ziel gelingt. Allerdings ist insbesondere der Nachhaltigkeitsfaktor eines jener für Laien kaum nachvollziehbaren Elemente in der Anpassungsformel – unabhängig von seiner sozial- und verteilungspolitischen Bewertung.

Paulat
Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstages e.V.
Potsdam, 28. März 2022