Stellungnahme des DSGT e.V. zum Konsenspapier über MdE-Erfahrungswerte bei Gliedmaßenverlusten

Der DSGT e. V. begrüßt die Erarbeitung des ärztlichen Konsenspapiers zu den Erfahrungswerten der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach Amputationsverletzungen unter der Schirmherrschaft des Spitzenverbandes der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, der Deutschen Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV).

Hervorzuheben ist das – im Vergleich zu den bisher in der Praxis verwendeten MdE-Tabellen – wesentlich transparentere Verfahren (Bildung einer multiprofessionellen Expertenkommission, nachvollziehbare Beteiligung mehrerer ärztlicher Fachgesellschaften). Der DSGT e. V. begrüßt den sich an die Arbeit der Kommission anschließenden, von der DGUV geförderten, breit angelegten Diskussionsprozess mit Sozialpartnern, Betroffenenverbänden, Rechtsanwälten/Prozessvertretern und der Sozialgerichtsbarkeit. Er empfiehlt, diese Gruppen zukünftig noch früher an den Beratungen der Expertenkommission zu beteiligen, um Zwischenergebnisse sowie rechtliche, sozial- bzw. gesellschaftspolitische Anschlussfragen gemeinsam diskutieren zu können.

Die von der Expertengruppe vorgeschlagenen MdE-Werte werden wesentlich besser nachvollziehbar begründet, als die bisher in der Literatur veröffentlichten MdE-Tabellen. Die weitere Diskussion wird zeigen, inwieweit die vorgeschlagenen MdE-Werte von den beteiligten Fachkreisen allgemein akzeptiert werden.

§ 56 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) stellt für die Höhe der MdE ausdrücklich auf die „verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens“ ab. Der DSGT e. V. bedauert, dass die Expertenkommission bei der Erarbeitung des Konsenspapiers keine breiten arbeitswissenschaftlichen bzw. arbeitsmarktsoziologischen Erkenntnisse zu den verminderten Arbeitsmöglichkeiten hat gewinnen können. Soweit sie die fehlenden Erkenntnisse durch das in ihr vereinigte Erfahrungswissen ersetzt hat, mag diese Vorgehensweise unvermeidlich gewesen sein, um konsensfähige, praktisch anwendbare Lösungen anzubieten. Aufgrund des Gesetzeswortlauts bedarf es jedoch der weiteren Diskussion, ob MdE-Tabellen ohne nachprüfbare Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Unfallverletzungen und den in der Folge verschlossenen Erwerbsmöglichkeiten einen signifikant erhöhten Erkenntnisgewinn bieten.

Eine rechtsstaatlich gangbare Lösung wäre die Abkehr vom Begriff der „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ zugunsten eines im Gesetz zu verankernden Begriffs, etwa des „Grades der Schädigungsfolgen“ entsprechend der Begrifflichkeit im sozialen Entschädigungsrecht. Es obliegt jedoch der sozialpolitischen Diskussion, ob eine Änderung – und ggf. welche – mit den Grundprinzipien der gesetzlichen Unfallversicherung vereinbar ist und ob sie die Probleme der Rentenbemessung besser löst. Ein Handeln des Gesetzgebers erscheint aber jedenfalls geboten, soweit für die Bildung, Anwendung und Aktualisierung von MdE-Tabellen keine Rechtsgrundlagen existieren.

Hintergrundinformationen

Rechtslage

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist einer von zwei maßgeblichen Faktoren zur Bestimmung der Höhe der Rente im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Praxis bedient sich zur Bemessung der MdE sogenannter MdE-Tabellen. Die Tabellen bestehen aus einem abstrakten medizinischen Tatbestand (z. B. Versteifung eines Hüftgelenkes in Funktionsstellung) und einem diesem Tatbestand zugeordneten Wert (z. B. MdE 30 v. H.).

Im sozialen Entschädigungsrecht ist auf Grundlage des § 30 Bundesversorgungsgesetz die Versorgungsmedizin-Verordnung ergangen. Die gesetzliche Vorschrift zur Rente der gesetzlichen Unfallversicherung, § 56 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) enthält hingegen zur Bildung, Anwendung und Aktualisierung von MdE-Tabellen keine Regelungen. Letztlich kann deshalb jeder Autor medizinischer oder juristischer Publikationen MdE-Tabellen verfassen, die von Unfallversicherungsträgern und Gerichten bei ihren Entscheidungen herangezogen werden können, zumeist ohne dass die Urheberschaft der jeweiligen Tabellenangaben und -werte geklärt ist und die Validität und die Aktualität der jeweils vorgeschlagenen MdE-Werte einer vertieften Überprüfung unterzogen wird. In der Folge gibt es heute in der Praxis gebräuchliche MdE-Tabellen, die zwar in Aufbau und Inhalt weitgehend übereinstimmen, aber auch Abweichungen aufweisen. Trotz erheblicher Änderungen der Arbeitsprozesse, aber auch der medizinischen Versorgung wurden viele dieser Tabellen lange Zeit, teils seit Jahrzehnten, nicht grundlegend überarbeitet.

Rechtsprechung

Die Rechtsprechung qualifizierte die MdE-Tabellen zunächst nicht als Rechtsnormen, sondern als wissenschaftliche Erfahrungssätze. Zuletzt hat das Bundessozialgericht die rechtliche Einordnung der MdE-Tabellen allerdings offengelassen. In seinem Urteil vom 20. Dezember 2016 – B 2 U 11/15 R – hat es darauf hingewiesen, dass die gebräuchlichen MdE-Tabellen nicht auf einer wissenschaftlich fundierten Bestimmung der durch Funktionsbeeinträchtigungen verursachten Einschränkungen im Erwerbslebens basierten, sondern im Wesentlichen auf Erfahrungen aus vergleichbaren Sachverhalten. Inhalt und Ausgestaltung der Tabellen sprächen eher für eine Einordnung als Rechtsnorm, für die aber eine ausreichende gesetzliche Grundlage nicht existiere. Der Gesetzgeber sei jedoch verpflichtet, wesentliche Fragen der Grundrechtsausübung – zu denen, wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Versicherten, auch die Ausgestaltung der Rente gehöre – selbst gesetzlich zu regeln.

Anregung des DSGT e. V., Bildung und Arbeit der Expertenkommission und aktuelle Diskussion

Die Kommission SGB VII des DSGT e. V. empfahl nach der Diskussion beim 4. Bundeskongress in Potsdam 2012 die umfassende und systematische Überarbeitung der MdE-Werte unter Einbeziehung fachkundiger Personen. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) griff diese Anregung auf und bildete eine Expertenkommission unter Beteiligung mehrerer ärztlicher Fachgesellschaften und Vertretern der gesetzlichen Unfallversicherungsträger. Das in der Folgezeit erarbeitete Konsenspapier wurde der breiten Fachöffentlichkeit u. a. am 27. Juni 2018 in Berlin präsentiert. Die Ergebnisse wurden bei der Tagung der Kommission SGB VII des DSGT e. V. im Rahmen des 7. Bundeskongresses 2018 nochmals vorgestellt und ausführlich diskutiert.