Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 zu den Sanktionen des SGB II: Versuch einer vorläufigen Einschätzung aus juristischer Sicht

Der am Verfahren als sachkundiger Dritter beteiligt gewesene Deutsche Sozialgerichtstag e.V. (DSGT) sieht sich in seiner Auffassung zu den Sanktionsregelungen durch das BVerfG bestätigt. Er hatte in seiner schriftlichen Stellungnahme eine differenzierte Betrachtung des Sanktionenregimes angemahnt. Und auch das hat der DSGT geltend gemacht: Nicht verfassungsgemäß ist, dass Sanktionen nach dem bisher geltenden Recht – auch die Kürzung um 30 % –  pauschal und ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls von den Jobcentern verhängt werden  m ü s s e n  und die nachträgliche Erfüllung der Mitwirkungspflicht  u n b e a c h t l i c h  bleibt. Auch die vom BVerfG nun monierte Unverhältnismäßigkeit der Leistungskürzungen um mehr als 30 %  im Hinblick auf die mit ihnen verfolgten Ziele hatte der DSGT gerügt und angesichts fehlender empirischer Daten zu den Wirkungen von Sanktionen auf die sanktionierten Leistungsbezieher  vor allem bei Kürzungen von mehr als 30 %  die Geeignetheit dieser Mittel in Frage gestellt.

Nun ist es zunächst eine sehr befriedigende Feststellung, wenn sich ein Verband durch die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts weitestgehend bestätigt sehen kann. Etwas anderes ist es, das Sanktionen-Urteil des BVerfG einerseits juristisch zu analysieren, andererseits politisch zu bewerten.

Zunächst einmal bedarf es mehrfachen gründlichen Lesens des 74seitigen Urteils, um sämtliche Nuancen und Feinheiten der Entscheidung zu erfassen und einzuordnen. An dieser Stelle kann und soll keine abschließende juristische Betrachtung vorgenommen werden. Nur einige vorläufige Gedanken:

Es fallen Diktionen auf, die belegen, dass der Senat offenbar „gerungen“ hat, zu einer – wie es bei der Verkündung hieß – im Ergebnis einstimmigen Entscheidung zu gelangen. Insbesondere bleibt m.E. eine gewisse Begründungs“lücke“ zwischen der vom Senat selbstverständlich anerkannten unveräußerlichen Geltung des menschenwürdigen Existenzminimums und der von ihm angenommenen Legitimität, dieses doch zu unterschreiten; das war ein zentrales Thema in der mündlichen Verhandlung, in der die Vertreter der Bundesregierung eine überzeugende Begründung nicht hatten geben können. In der Entscheidung heißt es jetzt, die Aufstellung von Mitwirkungspflichten und die zu ihrer Durchsetzung verhängten Sanktionen verfolgten ein legitimes Ziel, zumindest in Hinblick auf  die 30%igen Kürzungen. Diese sind, so das BVerfG, derzeit auf der Grundlage plausibler Annahmen hinreichend tragfähig begründbar und wegen Fehlens milderer, ebenso effektiver Mittel geeignet. Im Weiteren spricht das Gericht davon, die 30%ige Kürzung sei (hinzugedacht: jedenfalls) nicht ungeeignet. Noch später findet sich die Formulierung, der Gesetzgeber dürfe im Rahmen seines Gestaltungs- und Entscheidungsspielraums die Kürzung des Regelsatzes um 30 % für geeignet halten, sein (legitimes) Ziel zu erreichen.  Förmlich erleichtert, so scheint es,  geht der Senat dann über zur Frage,  w i e  die Sanktion in Form der Kürzung um 30 % verfassungskonform zu verhängen ist (Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls, keine starre Dauer). Um schließlich zu stringenten, sehr klaren Ausführungen zur Verfassungswidrigkeit der höheren Sanktionen zu kommen.

Eine juristisch gänzlich überzeugende Begründung der grundsätzlichen  Legitimität des Unterschreitens des Existenzminimums durch eine Sanktion erschließt sich aus dem BVerfG-Urteil nicht.  Dennoch ist es ein „weises“ Urteil, wie Bundesminister Heil es nannte.

Der Beitrag beruht auf einem Referat, das die Autorin am 20.11.2019 auf der Jahrestagung der Bundearbeitsgemeinschaft für Arbeit in Berlin gehalten hat.