Offener Brief an die Rentenkommission

Offener Brief an die Rentenkommission

Deutscher Sozialgerichtstag e.V. fragt an:

Wie sollen Leistungen, die in der stationären und ambulanten Pflege ehrenamtlich erbracht und institutionell koordiniert werden, rentenversicherungsrechtlich berücksichtigt werden?

Sehr geehrte Frau Lösekrug-Möller, sehr geehrter Herr Schiewerling,

sehr geehrte Damen und Herren,

der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. (DSGT) befasst sich in seiner „Kommission SGB VI“ derzeit mit sozialversicherungsrechtlichen Fragen, die sich aus dem Koalitionsvertrag ergeben, beispielsweise der Grundrente und der Absicherung von Selbstständigen. In den Blick nehmen wir auch Schnittstellen zwischen abhängiger Beschäftigung, selbstständiger Tätigkeit und unbezahlter Arbeit.

Eine Arbeitsgruppe der Kommission ist dabei auf die im Betreff genannte konkrete Frage gestoßen. Es ist uns nicht ersichtlich, ob sich die Rentenkommission damit beschäftigt hat oder noch beschäftigen wird und die ehrenamtliche Pflege bei den „Stellschrauben“ der gesetzlichen Rentenversicherung (gRV) ggf. berücksichtigt. Der DSGT möchte deshalb die Rentenkommission bitten, diese Frage aufzunehmen, falls noch nicht geschehen.

Der Auftrag der Rentenkommission beinhaltet, eine Empfehlung für einen verlässlichen Generationenvertrag vorzulegen, mit dem unter anderem „die Stellschrauben der Rentenversicherung in ein langfristiges Gleichgewicht (zu) bringen“ sind. In die hier zu berücksichtigenden Personengruppen der gRV gehören neben den Beschäftigten und Selbstständigen bisher auch Personen, die wegen einer familiären Verpflichtung an der Erwerbstätigkeit gehindert sind. Pflegende Angehörige oder eingetragene ehrenamtliche Pflegepersonen erhalten bereits Entgeltpunkte je nach Pflegegrad. Andere ehrenamtlich Tätige können bei gewisser Höhe ihrer Aufwandsentschädigung diese in die Rentenversicherung einbeziehen.

N i c h t  berücksichtigt sind in der gRV bisher ehrenamtlich Pflegende in Heimen und in der Familie. Obwohl allenthalben betont wird, dass die Pflege ohne den ehrenamtlichen Beitrag nicht hinreichend erbracht werden könnte oder sogar zusammenbräche, wird die ehrenamtliche Leistung nicht in der gRV anerkannt. Das ist besonders deshalb nicht einsichtig, weil ehrenamtliche Pflegearbeit oft zeitaufwändig ist – Tätigkeiten, die gerade deswegen nicht in der Pflegesachleistung abgedeckt sind. Jede Pflegeleistung stellt zudem hohe Anforderungen an die pflegende Person – Pflege kann nicht voraussetzungslos erbracht werden.

Voraussetzungen dafür sind also Verfügbarkeit und Eignung. In Heimen werden Ehrenamtliche bereits flächendeckend eingesetzt. Der Angehörigenpflege fehlten bisher vergleichbare Unterstützungselemente – das soll jetzt nachgeholt werden.

Die ehrenamtliche Pflege in Heimen wird bereits durch die Träger koordiniert. Zum Teil wird der Aufwand auch entschädigt. Der Gesetzgeber hat bei der letzten Pflegereform in den §§ 45 ff SGB XI einen Passus aufgenommen, mit dem jetzt auch die häusliche Pflege durch ehrenamtliche Angebote unterstützt und teilweise sogar ersetzt werden soll. Der Auftrag an die Träger beinhaltet Förderung, Qualifizierung und Koordinierung ehrenamtlicher Pflege- und Betreuungseinsätze durch institutionelle Anbieter und Pflegestützpunkte. Die Angebote benötigen eine Anerkennung durch eine zuständige Landesbehörde, die alles Nähere zur Anerkennung und Qualitätssicherung des Angebotes regelt. Die Angebote werden durch Versicherungsunternehmen, gesetzliche und private Pflegeversicherungen und dem Spitzenverband der Pflegeversicherungen zunächst in Form von Projekten gefördert. Die Projektförderung beinhaltet insbesondere die Finanzierung von Aufwandsentschädigungen für die ehrenamtlich tätigen Helfenden sowie notwendige Personal- und Sachkosten, die mit der Koordination und Organisation der Hilfen und der fachlichen Anleitung und Schulung der Helfenden durch Fachkräfte verbunden sind. Geplant ist die flächendeckende Implementierung.

Zur häuslichen Pflege wird in der gRV geschlossen, dass ein pflegebedingter Hinderungsgrund für eine Erwerbstätigkeit vorliegt, solange die Pflegeperson im erwerbsfähigen Alter ist. Sie erhält deshalb Beiträge zum Erwerb von Entgeltpunkten aus der PV. Die ehrenamtliche Pflege ist mit der häuslichen Pflege von Angehörigen vergleichbar. Sie soll diese ergänzen und ersetzen (§§ 45 ff SGB XI), und sie soll als Ersatz von professioneller Pflege eingesetzt werden, wenn Bedürftigkeit vorliegt (§ 64 SGB XI). Mit den gesetzlichen Vorgaben zur Rekrutierung und Koordination ehrenamtlicher Arbeit in der Pflege verlässt das Ehrenamt seine übliche Definition als freiwillig und voraussetzungslos und in eigener Entscheidung der Ehrenamtlichen liegend. Die Tätigkeit ist integraler Bestandteil des Pflege-Mix‘ aus professioneller und unbezahlter Pflege geworden, für den sich der Gesetzgeber entschieden hat. Hinzu kommt ein mittelbarer Diskriminierungstatbestand: Insbesondere Frauen stehen den wachsenden Pflegeanforderungen gegenüber, am häufigsten im Alter zwischen 45 und 60 Jahren, während ihre beruflichen Möglichkeiten nach einer eigenen Familienphase stark eingeschränkt sind – beispielsweise nachzulesen im kürzlich erschienenen SoVD-Gutachten „Altersarmut von Frauen durch häusliche Pflege“. Für sie entsteht die Notwendigkeit, sich beim Wiedereinstieg oder der Arbeitszeitausweitung gegen die Anforderung der gesellschaftlich notwendigen Pflegearbeit erst durchsetzen zu müssen. Die gleichen Bedingungen gelten grundsätzlich für potentiell ehrenamtlich tätige Frauen. Sie sind zwar zur familiären Pflege nicht gesetzlich verpflichtet, stehen aber nachhaltigen gesellschaftlichen Forderungen gegenüber, eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben, wenn sie nicht unmittelbar einen adäquaten Arbeitsplatz gefunden haben. Ihr Verbleib in der unbezahlten Reproduktionsarbeit wird damit befördert.

Der DSGT vertritt aus diesem Zusammenhang die Auffassung, dass die in den genannten Vorschriften erfassten Ehrenamtlichen ebenfalls in die gRV aufzunehmen wären. Er würde es begrüßen, wenn die Rentenkommission sich mit der Frage beschäftigte, ob der beschriebene Personenkreis im System der gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtigt werden kann.

Mit freundlichen Grüßen

Monika Paulat
Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtages e.V.

Potsdam

Der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. –DSGT – ist ein interdisziplinärer Fachverband, dem Richterinnen und Richter (auch ehrenamtliche), Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Rentenberaterinnen und Rentenberater, Verfahrensbevollmächtigte von Verbänden, Angehörige der Rechtswissenschaft, Vertreterinnen und Vertreter von Behörden, medizinische Sachverständige und Entscheidungsträger aus der Gesetzgebung angehören.

Der DSGT begleitet aktuelle Gesetzgebungsverfahren und fördert auf den alle zwei Jahre stattfindenden Bundeskongress und in den Veranstaltungen der elf Fachkommissionen den Erfahrungsaustausch unter seinen Mitgliedern und unterstützt die wissenschaftliche Entwicklung des Sozialrechts.

Als sachkundiger Dritter wird der DSGT regelmäßig  vom Bundesverfassungsgericht in sozialrechtlich relevanten  Verfahren angehört, zuletzt im Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit der Sanktionen des SGB II .und in den Verfahren zur Beitragsgerechtigkeit in der Sozialversicherung.